Harper Lee

Wer die Nachtigall stört

* * * * *

erschienen 1960, deutsch 1962

Rowohlt

464 Seiten

ISBN 9783499271571

amerikanischer Kleinstadtroman um Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Rassismus

Noch ein Tipp:

Auch Südstaaten, mit ähnlichen Themen und ebenfalls aus Kinderaugen.

Bei Büchern ist es oft ähnlich wie bei Menschen: Da gibt es wen, den kennt vage schon seit langem, aber es ergab sich nie ein näheres Kennenlernen. Wenn es doch geschieht, erkennt man mitunter, dass man seit Jahren eine wunderbare Begegnung versäumt hat.

So ging es mit mit Harper Lee und „Wer die Nachtigall stört“. ‚Amerikanischer moderner Klassiker, nett zu lesen und wohl auch lohnend‘, das wusste ich. Aber näher bin ich dem Buch nie gekommen und selbst die oskarprämierte Verfilmung aus dem Jahr 1962 war an mir vorbeigegangen, obwohl ich das Kino der sechziger Jahre sehr schätze und ebenso Gregory Peck.

Und dann war neulich meine Bettlektüre zu Ende und ich war zu faul einen anderen lieben Band im Bücherbord auszusuchen. Zufällig lag Harper Lee gerade herum und ich war nun einfach neugierig. Und dann? Den Anfang fand ich ein wenig harzig. Die Erlebnisse des altklugen Wildfangs, der sechsjährigen Jean Louise Finch, genannt Scout, fand ich nett, aber mehr auch nicht. Ich las, wie sie sich von ihrer Lehrerin ungerecht behandelt fühlt, über ihre Schulweg- und Schulhofabenteuer, die sich immer wieder um Arthur „Boo“ Ridley drehen, den geheimnisvollen Nachbarn, der die Menschen scheut und seit vielen Jahren nie das Haus verließ. Für die Kinder wurde er so zu einer Art Sagen-und Schreckgestalt. Scout und ihr älterer Bruder Jem versuchen in immer neuen Anläufen ihn aus dem Haus zu locken. Alles las sich angenehm und die Figuren waren stets plastisch und lebendig gezeichnet, doch wohin wollte die Geschichte?

Erzählerisch bricht das Buch mit sehr vielen Regeln, die ein Autor besser beachten sollte. Vor allem in der Erzählstruktur. Scout stellt dem Leser eine Unmenge Figuren vor, doch der Leser bleibt alleingelassen mit der Frage, warum er dies gezeigt bekommt. Die eher anekdotische Handlung meandert zwischen dem Finchschen Anwesen und dem Postamt hin und her, schweift ab in die Tiefen in die Familengeschichte um dann scheinbar Volten drehend wieder zum geheimnisvollen Boo Ridley zurückzukehren. Scout ist zwar hinreißend, doch auch die beste Protagonistin braucht eine Thema, dem sie folgen kann, um ihre Geschichte zu erzählen.

Fast hätte ich das Buch wieder weggelegt. Und doch war da etwas, was mich zum weiterlesen bewog: Der Schauplatz Maycomb. Harper Lee zeichnet sehr genau ein Bild dieser fiktiven Kleinstadt in Alabama zur Zeit der Depression, führt das typische Personal vor Augen, bigotte Damenkränzchen, unverbiegbare Farmer an der Armutsgrenze, die dennoch stolz und aufrecht nie etwas schuldig bleiben wollen und ihre Schulden mit Eiern oder einem Ferkel bezahlen, verschlagene Rednecks, weißes Prekariat am Rande der Gesellschaft und die Parallelgesellschaft der Farbigen. Seit meiner Jugend kenne ich dank Tom Sawyer, die Waltons. Durch sie und viele andere Quellen war ich vertraut mit diesen Versatzstücken, doch Harper Lee hat sie, das merkte ich erst auf den zweiten Blick, zu einem dichten und lebendigen Mikrokosmos verwoben. Vor allem aber, das ist ihre große Stärke, blickt sie immer wieder genau in die Seelen der Figuren, belässt es nie beim Anschein, der vertrauten Oberfläche, dem Klischee. Das erzählende Kind begegnet allen Menschen unvoreingenommen und lotet so die Charaktere aus, immer wieder auch mit Hilfe ihre verwitweten Vaters, Atticus Finch, einem alternden Anwalt in der Gemeinde. Er glaubt an Freiheit und die Gleichheit vor dem Gesetz und lebt dies auch vor. Seinen Kindern ist er Vertrauter und Vorbild und vor allem Freund, der sie auch als Gesprächspartner ernst nimmt. Ansonsten lässt er ihnen sehr viel Freiheiten. Weit mehr, als Calpurnia, die schwarze Haushälterin, die mit Strenge und Liebe die eigentliche Erziehungsarbeit übernimmt.

Ein Weilchen lag das Buch mit einem Lesezeichen in der Mitte neben meiner Bettstatt unberührt. Ich fand den Ruf, den es genießt, eher rätselhaft. Doch dann las ich weiter und endlich schälten sich aus den vielen, vielen Themen im Buch drei heraus, die sich in der zweiten Hälfte immer dichter verwoben: Rassismus, Gerechtigkeit und vor allem die Menschlichkeit in ihren guten und schlechten Ausprägungen.

Als Atticus einen Schwarzen als Pflichtverteidiger vertritt, der beschuldigt wird, ein weißes Mädchen vergewaltigt zu haben, ein Vorwurf, der in Alabama in dieser Zeit beinahe automatisch zur Verurteilung führt, und er dieses Mandat auch noch sehr ernst nimmt, kommt es zu verdeckten und offenen Anfeindungen gegen diese „Niggerfreunde“. Atticus gelingt der Ritt auf der Rasierklinge, gelassen den gehässigen Klatsch zu überhören und sich dennoch sich dem Unrecht, notfalls auch dem Lynchmob entgegenzustellen, mit nichts weiter bewaffnet als aufrichtiger Überzeugung und Manieren. Er lehrt er seine Kinder, die Menschen zu verstehen, sich in die anderen hineinzuversetzen und niemanden zu verurteilen, nicht einmal die Bekannten und Nachbarn, die den Angeklagten lynchen wollten. Denn manchmal, so lehrt er sie, sind auch vernünftige Menschen verblendet. Dann stünde irgendetwas zwischen ihnen und ihrer Vernunft, ein Vorurteil, eine Angst oder sonst ein Gefühl.

So wird über niemandem der Stab gebrochen, denn man muss ja auch in Zukunft friedlich zusammenleben. Dennoch werden im Roman die Schwächen und Unzulänglichkeiten und das Unrecht nie ausgeblendet, verleugnet und auch nicht beschönigt, denn der Angeklagte muss sterben, auch wenn Atticus im zentralen Prozess seine Unschuld offen zu Tage fördern kann. War sein Einsatz umsonst? So sieht es sein Sohn, und doch hat sich manches geändert, wenn auch einstweilen nur in den Köpfen. Aber genau da, in den Köpfen der Menschen, muss wohl alle gesellschaftliche Veränderung beginnen.

So birgt das Buch gewaltigen gesellschaftspolitischer Sprengstoff, liebenswürdig verpackt in rosa Seidenpapier mit Schleifchen. Im seinem Kern ist es hochexplosiv und gerade heute so hochaktuell wie vor sechzig Jahren, als es erschien – in Amerika ebenso wie bei uns und vielleicht überall, wo Menschen mit Vorurteilen die Gesellschaft gestalten.

Wie konnte ich dieses Buch nur übersehen? Es hielt mich bis drei Uhr wach, und nun, da ich das Werk als ganzes kenne, bin ich begeistert. Ich glaube, es verdient ein Plätzchen bei meinen Lieblingsbüchern.

 

3.5.2021

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