Sir Arthur Conan Doyle

Die Abenteuer des Sherlock Holmes

* * * * *

1892, so erstmals 1984 auf deutsch

Insel Verlag

432 Seiten

ISBN: 9783458350170

Klassische Kurzgeschichten von Urgestein der Kriminalrtzählungen

 

Noch ein Tipp:

Auch das ist aus Sherlock gewachsen: Rätselnüsse für zuhause

Natürlich ist Sherlock Holmes seit Jahrzehnten eine der großen Ikonen der Literatur, so dass man die Bücher nicht gelesen haben muss, um eine klare von Vorstellung von dem Detektiv aus der Bakerstreet 221b zu haben. Ich kannte noch vor unserem ersten Kontakt den Namen als ein Synonym für einen scharfsinnigen Detektiv. Ich war in der sechsten Klasse, als meine Deutschlehrerin ein Heftchen mit einer seiner Kurzgeschichten als unsere erste Klassenlektüre auswählte. Es ging ihr dabei sicherlich weniger darum, uns ein literarisches Qualitätsprodukt erster Güte zu zeigen. Sie wollte wohl vor allem alle in der Klasse für die Geschichte zu begeistern. Auch die, die vor allem bislang Fix und Foxy, Bessy, die Silberpfeilhefte oder Wendy als den Gipfel der Literatur kannten. Es war vor allem Leseförderung, aber wir lernten auch, als Klasse gemeinsam eine Geschichte zu lesen und ein wenig hinter die Handlung zu schauen. Eine Fertigkeit, die wir im Sommer bei unserer zweiten Lektüre – der Löwe Leopold, politische Lyrik eines DDR-Autors – dringend brauchten.

Das war mein erster direkter Kontakt. Ich mochte dem brilliant-kauzigen Ermittler und die Geschichte mit der überraschenden Auflösung. Sie machte Lust auf mehr. Im heimischen Buchregal fand sich vieles, aber Krimis waren dünn gesät und Holmes war hier nicht daheim. Doch ich hatte ja meinen Büchereiausweis.

Damals waren Bibliotheken noch recht weihevolle Buchhorte, deren Atmosphäre von einem omnipräsenten „Psst“ bestimmt war. "Unsere Regale", der Kinderbuchbereich war offener und nahe am Tisch, wo man entliehenen Bücher abstempelte. Das war so, damit wir „Kleinen“ uns ja nicht unbeobachtet fühlten. Unter den Augen der ernsten Bibliothekarin Unfug machen oder lachen? Undenkbar!

Bald wusste ich, auch hier, bei den Kinderbüchern, gab es Sherlock nicht. Doch vielleicht war er im Büchermeer der Erwachsenen zu finden. Doch, durfte ich in diese Reihen vordringen, die nicht für Meinesgleichen bestimmt waren?
Ich fragte schüchtern die Bibliothekarin, ob ich dort nach dem Detektiv suchen durfte. Sie aber wies mir statt dessen den Weg zum Schubladenschrank mit den Katalogkarten auf Karton. An diesem Nachmittag lernte ich, was Stich- und Schlagworte sind und ergründete erstmals die Geheimnisse der Bibliothekssigel, die dem Eingeweihten den Weg zum Buch wiesen. So öffnete mir Sherlock auch einen Spalt in der Tür zur Buchwissenschaft. Dann endlich hatte ich das Buch, dieses Buch, die Abenteuer, in dem auch die Geschichte aus der Schule stand, in Händen und erlebte weitere spannende Fälle des Meisters.

Natürlich sind die Geschichten alt und nicht mehr ganz zeitgemäß. Große Fragen der Welt oder des Menschseins werden hier nicht erörtert. Es ist „nur“ Unterhaltungsliteratur, sogar eine gewisse Gleichförmigkeit kann man den Geschichten vorwerfen, stereotype Detektivgeschichten, Serienliteratur, Dutzendware, die man im Englischen pulp fiction nennt. Das ist alles nicht falsch, doch andererseits ist da doch noch mehr.

Sir Arthur Conan Doyle schrieb zwar Geschichten von der Stange, doch die Erfindung der Detektivpaars und auch der vielen ikonischen Nebenfiguren ist kaum anders als genial zu bezeichnen. Wären sie banal, hätte man sie nicht immer wieder mit Faszination aufgegriffen und weiterentwickelt. Und auch in anderer Hinsicht waren die Bücher genial. Mit Sherlock Holmes begann die Wissenschaftlichkeit in die Kriminalermittlung einzuziehen. Die Fiktion nutze noch vor der Kriminalistik alle Möglichkeiten der Sachbeweise und ebnete modernen Ermittlungsmethoden der Polizei den Weg. Sherlock erst zeigte auch vielen Beamten in unserer Welt, dass es weit bessere Möglichkeiten der Täterüberführung gab, als wirre und widersprüchliche Zeugenaussagen und dem trügereischen Anschein folgende Ermittlungen. Tatortbegutachtung, Beweissicherung, Dokumentation … all das war noch kaum etabliert und es ist unklar, wie sie die Kriminalistik ohne diese Bücher entwickelt hätte. Holmes Lupe, in der Studie in Scharlachrot noch ein verspottetes Kuriosum, wurde binnen Jahrzehnten zum Symbol für den Detektiv, auch im Polizeidienst.
Und erst die Kriminallitatur … Sie wäre ohne Holmes und Watson kein so großes und reiches Genre geworden. Waren Geschichten der Verbrechensaufklärung bisher eher vereinzelt aufgetreten, wurden sie nun populär. Father Brown, Hercule Poirot, Sam Spade, Jules Maigret, Kalle Blomquist und nicht zuletzt mein Metzgermeister Ludwig Wimmer, sie alle fahren munter in dem Kielwasser, dass die Holmesbücher wie ein Eisbrecher erst fahrbar gemacht hatten.

Ich finde die Geschichten nach wie vor schön und sie sind trotz ihres Alters immer noch frisch. Das liegt zum einen an dem wunderbaren Erzähler. James H. Watson MD ist tapfer, zupackend und sprachgewandt, und gleichzeitig bescheiden. Er wirkt neben dem Superhirn so wunderbar beschränkt, dass Doyle diesen Topos in immer neuen Variation dem Leser serviert. In den Augen von Watson ist Homes ein Heldengenie. Doch wenn man den Schleier seiner Heldenverehrung nur ein wenig beiseite zieht, zeichnet Doyle in Watsons Beschreibungen einen Asberger-Patienten mit allen Merkmalen: Eingeschränktes, stereotypes Repertoire von Interessen und Aktivitäten, aber keine allgemeine Entwicklungsverzögerung, auch nicht sprachlich, jedoch signifikante Auffälligkeiten bei sozialen Interaktionen. So zeigt er kaum Empathie, sondern bleibt stets rational und ist immer wieder für viktorianische Verhältnisse ein Rüpel. Für Snobismus fehlt ihm der Pedegree. Seine Verstöße gegen die strenge Etikette verzeiht man ihm nur wegen seines einzigartigen Talents und Erfolgs. Dazu neigt er zu exzessiver Kokainsucht, doch all das weiß sein Freund, Sidekick und bewundernde Chronist liebevoll zu bemänteln, ohne es zu leugnen.

Aus dieser Kluft zwischen der freundlichen Schilderung und der eigentlich krassen fiktionalen Wirklichkeit generiert Doyle eine Energie, die den Charakter bis heute lebendig hält und zu immer neuen, gelungenen oder weniger gelungenen Interpretationen in Buch, Film und Computerspielen anregt. Was stören da ein paar kleine Schwächen oder die Tatsache, dass der Zufall, der in der Kriminalistik nicht ohne Grund den Rang des Kommissars hat, bei Sherlock Homes keine Rolle spielt? Keine so große, dass ich dafür einen Punkt abziehen möchte.

9.4.2021

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