Michae Gerhard Bauer:

Nennt mich nicht Ismael

* * * * *

2006 auf Englisch

2008 auf Deutsch, TB 2009

dtv – Reihe Hanser

301 Seiten

ISBN 9783423624350

 

Jugendroman um das mühsame Erringen von Selbstbewusstsein

Noch ein Tipp:

Noch ein herausragendes Kinderbuch von einem australischen Autor.

Da scheint sich eine sehr interessante Szene entwickelt zu haben!

Haben Sie schon mal ein Hemd oder eine Bluse für einen bestimmten Zweck gekauft – oder ein Küchengerät, und dann festgestellt , dass sich das Gekaufte als völlig ungeeignet für erwiesen hat, für den beabsichtigten Zweck zumindest. In anderer Hinsicht entpuppte sich der Einkauf aber dann doch als Gewinn? So ging es mir mit dem Buch.

Ich suchte ein Geschenk für ein zehnjähriges Mädchen. Das Buch ist aber eher für etwas ältere Leser. Das ist kein Beinbruch, denn der Makel der Jugend wird täglich etwas kleiner. Doch die Problematik, die das Buch in wundervollen Worten eingefangen hat, ist eher die eines spezifisch männlichen Heranwachsenden. Auch wenn es natürlich auch weibliche Bullies gibt, hoffnungslose Verliebtheit und die Neigung dazu, sich hemmungslos zu blamieren, so ist die Sicht darauf und Art damit umzugehen in diesem Buch eine – denke ich – andere andere, die eines pubertierenden jungen Mannes.

Der Held des Buches heißt zu seinem eigenen Unglück Ismael, weil sein Vater vor Urzeiten einen Witz gemacht hatte. Dieser Anflug von Heiterkeit bedeutet für Ismael einen nicht endenwollenden Albtraum, macht der exotische Name allein ihn schon zur Zielscheibe seines Klassenkameraden Barry, der in jeder denkbaren Weise den Namen entstellt und auch ansonsten Ismael quält, wo immer es kann. Stets findet er einen wunden Punkt, einen blosliegenden Nerv und oder eine Wunde, die er genüsslich mit Salz und Tabasko behandelt. Ismael ist eigentlich ein ganz durchschnittlicher Junge, doch bei dieser Dauerbehandlung geht natürlich auch der letzte Rest Selbstbewusstsein und -achtung flöten.

Dann aber taucht plötzlich Scobie in der Klasse auf. Er sieht seltsam aus, in seinen Knickerbockern, mit seiner komischen Frisur. Barry macht in ihm eine neue Zielscheibe aus, doch – oh Wunder – Scobie lässt sich nicht einschüchtern. Er ist intelligent, selbstbewusst und ein guter Redner. Er zerpflückt Barrys Gemeinheiten und lässt sich nicht einschüchter. Und lässt ihn eiskalt auflaufen. „Ich habe vor nichts Angst!“, behauptet er und stellt es auch unter Beweis als der Klassenquälgeist ihm das Pult mit Allerlei Spinnen, Käfern und Schaben vollstopft. Er bleibt gelassen und der Streich verpufft.

Etwas später erfährt Ismael den Grund für das völlige Fehlen von Angst. Scoobie hatte einen Hirntumor, der entfernt werden muss. Ob dabei sein Angstgefühl tatsächlich beschädigt wurde, oder ob im Vergleich dazu ein niederträchtiger Wicht wie Barry nur eine lästige Kleinigkeit ist, bleibt dahingestellt. Aber – das ist wichtig für Ismael – Scoobie lässt sich nicht zum Opfer machen.

Bislang war in der katholischen Knabenschule, in der das Buch spielt, vor allem Rugby die Möglichkeit, Ruhm und Anerkennung zu finden. Nun aber kommt aber dank Scoboies Initiative ein Debattierclub als Gelegenheit hinzu. Die neunte Klasse vertreten Scoobie, Ismael und Razza, der Klassenwitzbold. Mit im Team sind noch der übergewichtige Fantasy-Nerd Bob und Prindable, der zwar jede Menge Fakten im Kopf gespeichert hat, aber unfähig ist, aus ihnen Argumente zu schmieden. Ein Überflieger also und vier Außenseiter der Schulgemeinschaft. Und doch sie bilden ein Team und haben sogar Anfangs Erfolg.

Es ist ein Jugendbuch. Anders als viele Jugendbücher wird hier schonungslos offen mit der Hilflosigkeit der Mobbingopfer im System Schule umgegangen. Die Lehrer sehen das Problem nicht oder wollen es nicht sehen. Mediation oder andere institutionelle Ansätze zur Konfliktlösung gibt es im Buch nicht. Respektvoller Umgang bleibt so ein inhaltsleeres Motto, dass von Bullies leicht als Lippenbekenntnis ohne praktischen Wert entlarvt wird, weil sie ihre Macht im Geheimen ausüben. So ist Mobbing ein Problem, mit dem die Schüler allein gelassen werden. Für Ismeal ist das Problem existenziell.

Was das Buch zeigt, ist die Bedeutung des Selbstbewusstsein, des Wissens um den eigenen Wert. Dies als Waffe gegen Gemeinheit, gegen körperliche uns seelische Gewalt? Es kann einen schützen und weit weniger verletzbar machen, wenn man den eigenen Wert kennt und Anerkennung von anderen erfährt. Es hilft, den Quälgeist als das zu sehen, was er ist: Ein armes Würstchen, dass sein eigenes Selbtsbewusstsein nähren muss, indem er anderen seine Macht zeigt. Und da er sonst keine Machtmittel hat, ist er grausam. Die erkenntnis allein ändert aber nicht die Situation.

Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl sind natürlich wichtig! Diese Feststellung ist richtig, aber genügt sie? Ist das als Lösung des Problems ausreichend? Ich finde, es ist eine wichtige Erkenntnis, die das Buch vermittelt, doch allein reicht sie nicht annähernd aus. Für ein Buch aber ist es Stoff genug.

Über lange Strecken sah es so aus, als sei dieses Buch eine mehr oder weniger vorhersehbare Geschichte darüber, wie man mit Freunden gemeinsam Erfolge erringt, und wie der Erfolg die Anerkennung bringt, die dann das Problem löst. So einfach ist es aber nicht – zum Glück. Der Höhepunkt in meinen Augen ist der Moment, als Ismael Barry ganz und gar in der Hand hat und entscheiden muss, ihn gnadenlos bloßzustellen oder nicht. So tappt das Buch hier nicht in die Falle des öden Stereotyps, sondern findet einen ganz eigenen und, wie ich finde, schönen Schluss.

Auch sprachlich ist das Buch ein kleines Meisterwerk. Es ist schön erzählt, voller Ironie und Witz, mit geistreichen Sprachkapriolen. Die erlebte Zeit wird an einigen Stellen extrem gedehnt, so dass wenige Minuten mehrere Kapitel mit Innenansichten von Hoffnung, Panik und Schrecken füllen. Auch die Struktur ist schön. Das Buch klar fünf Abschnitte, deren Inhalt jeweils einem anderen Thema gewidmet sind.

Vieles an dem Buch ist universal, manches aber bezieht sich wohl speziell auf den Alltag im britisch-australisch geprägten Schulalltag. Vor allem der Roman Moby Dick ist aus dm englischen und vor allem amerikanischen Literaturunterricht nicht wegzudenken. Bei uns ist das Racheepos des manisch-einbeinigen Walfängers eher literarisches special interest. Hier aber ist es ein Thema und Motto, das sich durch das Buch zieht. Diese Anspielung wird Schülern mit deutschem Bildungshintergrund eher schwer erschließbar erscheinen.

Für wen ist das Buch nun? Für das Mädchen, dem ich schenken wollte, sicher (noch) nicht. Für meinen Neffen auch noch nicht. Vor allem, denke ich, für junge Männer ab 14, vielleicht auch für Mädchen, wenn die es wagen wollen, in den unaufgeräumten Kopf einen pubertierenden Jungen zu blicken. Für Lehrer auf alle Fälle eine gute Empfehlung und alle, die mit Mobbing zu tun haben. Vor allem aber ist es gute Literatur und für alle, die sprachliche Originalität und die Macht des Wortes lieben.

Als Jugendbuch könnte ich dem Buch nur vier Sterne verleihen. Zu vieles ist für deutsche junge Leser schwer verständlich, zu wenig werden Mädchen angesprochen. Doch als Roman jenseits der Kinderbuchecke kommt er dann doch auf fünf.

15.5.2021

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