Jasper Fforde

Der Fall Jane Eyre

* * * * *

Erschienen 2001, deutsch 2004

dtv

376 Seiten
ISBN: 978 3 423 28274 1

Völlig abgedrehte und faszinierende Literatur-Verbrecherjagd

Noch ein Tipp:

Nur für den Fall, dass Sie wissen wollen, wie sich das Werk in unserer Welt liest ...

Das Buch ist nicht lustig. Oder amüsant. Es ist völlig abgefahren.

England 1985 … aber nicht das England, das man kennt. Der Leser stellt sehr schnell fest, dass dieser Roman in einer Parallelwelt spielt. Dodos sind beliebte Haustiere, die man sich sogar mit Klonungs-Sets für den Selbermacher in Eigenarbeit herziehen kann. Das United Kingdom gibt es so nicht, der Frieden mit Wales ist spröde und kaum belastbar und der Krimkrieg dauert noch immer an – schon seit rund als 130 Jahren. Die Wirtschaft ist in England fast komplett unter der Kontrolle der Goliath-Company, denn als sie 1949 bei der Rückeroberung Englands tatkräftig half, die Nazis zu vertreiben, war die Regierung so dankbar, dass die Company in den Jahren danach praktisch alles nach ihren Wünschen durchsetzen konnte.

Hier ist die Heldin Thursday Next zuhause, eine Agentin des Special Operations Network, das mit seinen 30 Abteilungen alle Aufgaben übernimmt, die man der regulären Polizei nicht zutraut. Da wäre die Jagd nach Werwölfen oder die Aufklärung von Kunstverbrechen, Terrorbekämpfung oder die Kontrolle von Zeitreisen. Doch auch einfache Nachbarschaftsstreitigkeiten oder Literaturfälschungen sind dort zu Hause und als Lit-Agentin arbeitet unsere dynamische Hauptfigur. Das ist nicht ohne, denn in dieser Welt ist man literaturverrückt. Wer es möchte, ändert seinen Namen in den eines berühmten Dichters und heißt fortan zum Beispiel John Milton. Bzw, da ja viele auf diese Idee kamen, John Milton 496. Viele versuchen auch mit dreisten Fälschungen schnelles Geld zu machen und natürlich liefern sich die Anhänger verschiedener Literaturrichtungen erbitterte Straßenschlachten.

Die Heldin bekommt es mit Acheron Hades zu tun, seit 74 Wochen die Nummer 1 der Fahndungsliste und „Unsympath Nummer 1, gewählt von den Lesern des Toad". Sie als einzige in der Einheit kannte Hades, der ein Meister der Täuschung ist, als er noch Literaturprofessor war. Beim Versuch, diesen Erzbösewicht auszuschalten kommt der angeblich ums Leben. Thursday glaubt das keinen Moment. Das Verbrechergenie täuschte seinen Tod nur vor und es dauert nicht lange, dann kann sich Hades das Originalmanuskripts von Jane Eyre beschaffen, dem berühmten Roman von Charlotte Brontë. Damit erpresst er die britische Regierung, denn natürlich kann er nun das Werk nachhaltig beschädigen. Was im Originalmanuskript verändert wird, erscheint logischerweise so auch in allen Ausgaben des Buches verändert. Wenn er die Hauptfigur schon nach wenigen Seiten sterben ließe … eine Katastrophe! Die Bontë-Gesellschaft ist eine Institution mit Einfluss, doch vor allem geht es um ein nationales Literaturdenkmal. Einstweilen hat Hades Jane Eyre aber nur aus dem Buch entführt – mithilfe einer Bio-Tech-Maschine auf Grundlage genmanipulierter Bücherwürmer. Doch ihr Leben hängt an einem seidenen Faden. Dass ausgerechnet die Goliath-Company ein sehr lebhaftes Interesse an diesem Prosa-Portal hat und laufend bei den Ermittlungen mitmischt, dabei aber ganz eigene Ziele verfolgt, macht es der Heldin nicht leichter.

Thursday Next jagt Hades und die Hatz nach dem Superschurken entwickelt sich zu einer tollen Achterbahnfahrt durch eine mehr als nur leicht verrückte Welt. Der Brunnen der aberwitzigen Ideen, aus denen Fforde sich bedient, scheint unerschöpflich zu sein. Intelligenter, anarchischer Humor schäumt in jedem Kapitel. Dass Briten einen besonderen Humor haben, wissen wir. Terry Pratchett, Lewis Carrol und auch Monty Python… alle zeigten, dass sie den Aberwitz als Stilmittel beherrschen. Doch ich glaube, man muss Douglas Adams bemühen, um ein Buch zu finden, wo esintensiv auf die Spitze getrieben wurde wie hier.

Was mich besonders beeindruckt, ist die Tatsache, dass Fforde den Leser nie bevormundet. Er erklärt nichts, auch nicht die größten Unglaublichkeiten. Man liest nur, dass es so ist. Dass man ihm auch die größten Absurditäten bereitwillig und mit Freude abkauft, ist ein kleines Wunder. Es liegt vielleicht daran, dass die Figuren mit all den Wunderlichkeiten so natürlich umgehen, sie einfach benutzen, oder auch mit ihnen hadern oder einfach als Selbstverständlichkeiten hinnehmen. All die Sensationen für den Leser – im Buch sind sie keine. So folgt man Fforde willig und macht all die Kapriolen mit. Es ist ein wohltuender Unterschied zu vielen anderen Wunderwelten, in denen der Erklärbär auf die Leser losgelassen wird – in Vorworten, Fußnoten, erklärenden Einschüben … all dies vermeidet Fforde. Lediglich die Zitate aus Werken dieser Welt, die den Kapiteln vorangestellt sind, enthalten hilfreiche Informationen für den Leser. Aber auch hier bleibt der Erklärbär an der kurzen Kette und der Leser mündig.

Ich finde das Buch nicht gut, sondern großartig und völlig irre.

20.2.2021

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