Nancy Springer:

Der Fall des verschwundenen Lords

ein Enola Holmes-Krimi

* * * * *

Erschienen 2006, deutsch2019

Knesebeck-Verlag
189 Seiten

ISBN 978 3 95728 280 6

Scheinbar nur ein spannender Krimi für Mädchen, aber eigentlich weit mehr.

Noch ein Tipp:

Dies ist der Kompost, auf dem das Frauenbild wuchs, das bei Enola angeprangert wird und bis heute nachwirkt.

Meine Nichte ist kaum jünger als die Protagonistin. Sie trägt kurze Tops und T-Shirts, kurze Kleidchen oder Hotpants. Sie schert sich nicht drum, ob Männer einen Blick auf ihre Knöchel werfen können. Allein diese Idee fände sie völlig abwegig. Was das mit diesem Buch zu tun hat? Geduld bitte …

Enola lebt mit ihrer Mutter auf einem Landsitz in England und genießt eine recht eigentümliche Erziehung durch ihre Mutter. Die brachte ihr die Grundlagen bei und begleitet ihre Studien, doch das meiste erarbeitet sie sich allein in der großen Bibliothek.

"Allein" – das ist wichtig. „Enola, du kommst bestens allein zurecht!“, hört sie oft von ihrer Mutter, die diesen Namen gegen familiäre Widerstände durchsetzen konnte. Rückwärts buchstabiert heißt Enola „alone“ – allein.

Dann – an ihrem 14. Geburtstag verschwindet die Mutter spurlos. Enola kann keine Spur von ihr finden. So telegraphiert sie ihren beiden älteren Brüdern nach London, und die kommen an. Es handelt sich um Sherlock und Mycroft Holmes. Mit ihrer Ankunft beginnt eine Katastrophenserie … die sich letzten Endes als Start in ein neues Leben erweisen wird.

Sherlock, der große Detektiv sieht in Enola nur ein kleines Mädchen mit einem naturgemäß stark eingeschränkten Intellekt. Doppelt eingeschränkt sogar: durch ihre Jugend und – natürlich – als Vertreterin des auch geistig schwachen Geschlechts. Dass auch der geniale und unschlagbare Detektiv keine Spur der Mutter finden kann wurmt ihn zwar, doch es ändert nicht seine Einstellung zu Frauen.

Mycroft ist noch weit schlimmer. Ihn grämt einerseits, dass seine Mutter ihn um Geld mit fiktivem Personal betrogen hat, wohl um nach ihrer Flucht ein Leben in Saus und Braus zu finanzieren. Er hat noch anderen Kummer. Wer nicht weiß, was Misogynie ist, bekommt bei Mycroft einen Schnelllehrgang. Er ist seit dem Tode seines Vaters das Familienoberhaupt. Seine Mutter ist – weil Frau – selbstredend nicht geschäftsfähig. Schon immer war sie in seinen Augen mit ihrem Hang zu Frauenrechten ein wenig verrückt, doch wie weit sie geistig derangiert war, erkennt er nun an Enola. Seine Schwester ist in seinen Augen eine einzige Katastrophe. Ihre Garderobe ist unangemessen – sie trägt ja nicht einmal ein Mieder, sie liest Unangemessenes, ihren Manieren fehlt jede Finesse und ihr Widerspruchsgeist … Wenn man ihre Chancen im Leben – er meint den Heiratsmarkt – noch retten will, muss man sofort tätig werden. Erste Maßnahme: Eine Schneiderin wird aus London herbeigerufen und Enola mit dem Notwendigen ausgestattet. Das Notwendige für eine junge Dame ist: luftabschnürendes Korsett, Reifrock, Tournüre (eine Art Popolster unter dem Rock – ein „Heckspoiler“ ), Brustschmeichler (der dazu passende „Frontsspoiler“) und jede Menge Unterröcke. Die Autorin beschreibt diese Damenkomplettausstattung mit großer Sachkenntnis und lässt dank Enolas Reaktion keinen Zweifel offen: Das ist an Mordversuch grenzende Körperverletzung. Diese Formulierung ist keineswegs eine Übertreibung, sondern sehr ernst gemeint. Mode und Schönheitswahn sind nicht erst seit GNTM lebensgefährlich.

Das Geburtstagsgeschenk aber, das die verschwundene Mutter Enola noch machte, entpuppt sich aber als Schlüssel aus dem Gefängnis. Schon der Name ihrer Tochter verrät ihren Hang zu Geheimcodes und so spielt sie Enola in verschiedenen Botschaften ein kleines Vermögen in Bargeld zu, das sie hinter Bildern, in Bettknäufen und anderen Verstecken hinterlegt hat. Das Startkapital, damit Enola ihr eigenes Leben kann, damit sie auch allein bestens zurecht kommt.

Enola wendet nun die unterdrückende Mode gegen ihren Zweck und nutzt die vielen Pölsterchen als geheime Verstecke für ihr Geld und praktische, aber nicht damenhafte Hilfsmittel wie zum Beispiel ein Taschenmesser. Systematisch breitet ihre Flucht vor. Wenn man Sherlock Holmes täuschen will, und der wird hinter ihr her sein, muss man sie sich etwas einfallen lassen. Ihr Ziel ist London, und die große Stadt will sie quasi unsichtbar erreichen … im Witwenkleid ihrer Mutter. Darin kann sie einen Schleier tragen, kaschiert ihr Alter und ist dank der Regeln der Gesellschaft vor jeder Art der Behelligung geschützt.

Was schützt sie aber vor der Logik und dem Scharfsinn ihres Bruders, der jeden möglichen Plan in seine Überlegungen einbeziehen wird? Der beste Schutz ist da Unvorhersehbarkeit, eben keinen Plan zu haben. Und so kümmert sie sich ganz spontan um den seltsamen Fall eines jungen Lords, der die Zeitungen in Aufruhr versetzt. Sie wird also Detektivin. Erst nach dem halben Buch, aber nicht ohne Erfolg. Sie gerät dabei rasch in größte Gefahr. Aber Enola kommt bestens allein zurecht und rettet dabei auch noch … Nein – ich will nicht spoilern.

Wenn man das, was Enola alles tragen muss, um den Konventionen ihrer Welt zu genügen, dem gegenüberstellt, was meine Nichte heute trägt, ist sehr klar, was das eigentliche Thema ist: Freiheit – besonders die Freiheit von Mädchen und Frauen. Das Thema ist immer noch aktuell, man muss nur „Korsett“ durch „Niqab“ oder „Burka“ ersetzen und immer noch haben Frauen und Mädchen bei gleichen Rechten nicht die gleichen Chancen.

Das Buch ist angenehm subversiv. Worte wie Emanzipation oder Suffragette und andere Kampfbegriffe fehlen völlig, doch die ganze Geschichte, Enola und wie sie und ihre Mutter ihren Brüdern und anderen Vertretern der Gesellschaft gegenübergesetzt wird, zeigen genau, um was es geht und ebenso Enolas Art, Dinge mutig und klug anzugehen. All dies ist ein klares und leidenschaftliches Plädoyer für freie Mädchen und Frauen, selbstbewusst und selbstständig, mit gleichen Rechten und Chancen.

Zuletzt ist es bei aller Kritik aber auch eine schöne Hommage auf das Werk von Sir Arthur Conan Doyle.

 

Hier noch ein Link auf die viktoianische Damenmode, leider mit viel Werbung. Und der Hinweis: Enolas Abenteuer spielt 1888

9.3.2021

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